Die Sätze, die alles übertönen
Diese Sätze, still gelesen in einem beinah leeren Zimmer
Stuhl, Tisch, Fensterbrett, Tür, kein Bild an der Wand
Und dann dieses Lärmen in den Augen
Die Sätze, die alles übertönen
Das Schweigen, das Ausharren, die Bedenken
Die Erinnerungen, den Duft nach Apfelsinen
Über allem schwebt im leeren Raum der rauschende Satz
Der sich nicht begreifen lässt
Sich dem Zugriff entzieht
Und noch lange tobt
In allen leeren Räumen
184mal gelesen
Das weißt du doch sagt er
Sie sieht ihn an
Sie sucht seine Augen
(wo sind deine Augen)
du weißt es doch fragt er
er verliert einen Gedanken
sie hebt ihn auf
hier den hast du verloren
das weiß ich doch sagt er
sie hat eine Mutter die sich sorgt
er hat einen Vater der ihn nicht versteht
sie haben Blumen auf der Fensterbank
und Nachbarn rechts und links
das weißt du doch wiederholt er
Sie nickt
Sie hat keine Ahnung wovon er spricht
193mal gelesen
Mag sein, dass er vom Denken genug hatte
Diesem endlosen Kreisen um einen toten Punkt
Dass er genug hatte von der Verwerflichkeit der Augenblicke
Dem Zugedachten und den blassen Gesten des Alltags
Er zog die Tür leise hinter sich zu als er ging
Auf dem Tisch die Zeitung und ein Glas halbvoll mit Milch
Weiß wie der Zweifel unter seiner Haut
Und das Zurück Lassen der Tage
Wenn die Kinder mit Steinen nach ihm warfen
Lächelte er im Gleichschritt mit seiner Hoffnung den Fluss zu finden
Jede Nacht wartete er geduldig auf das Ausbleiben der Träume
Und reihte sich ein in den Kreislauf der Tage
Er löffelte mit allen die Suppe der Einfalt
Ein Mann aus Lehm
Aber zwischen den Zähnen die Schlange der Erkenntnis
Die das Unaussprechbare umzüngelte
So sah er sein Spiegelbild im Wasser
Ein durchsichtiger Regen umhüllte ihn sacht
Als er die Hände in den Fluss tauchte
Um das Bild zu zerstören
Mag sein, dass er vom Denken genug hatte
Diesem endlosen Kreisen um einen toten Punkt
Er hatte den Fluss gefunden, sein Bild zerstört
Was ihn zurückwarf war nicht die sich beruhigende Oberfläche
Nur das was sich darunter verbarg
277mal gelesen
Das Klavier, die Mandoline, zerspringendes Glas. Ein Kind mit einem alten Fotoapparat in der Hand. Aufgeschürftes Knie, verrutschte Socken, Locken auf dem Kopf, Krähen am Himmel. Krähennester um die Augen der Lieblingstante. Sie ist uralt. Mindestens dreißig oder fünfzig. Sie hat mir ein Hündchen gestrickt, es kann sprechen. Aber ihr Bruder hat nur noch ein Bein, das andere aus Holz. Was für ein Lärm, wenn er nachts auf die Toilette muss, sagt die Großmutter. Drahtbrille und schwarzes Kleid mit weißen Punkten, der Kopf aus Zeitungspapier, der Körper eine leere Flasche, steht auf dem Fensterbrett, sieht wie der Verkehrsstrom wächst, die Bäume, die Gärten verschwinden, Asphalt, Bauwagen, Möbelhäuser und längst kein Klo mehr im Treppenhaus, Holzbeine auch nicht, dafür selber Krähennester im Spiegel (wer ist das? Warum starrt die mich so an?). Irgendwo zwischen dreißig und fünfzig, ohne Klavier spielen gelernt zu haben, das Fenster öffnen (wo ist die Großmutter mit der Drahtbrille geblieben? Das Haar aus weißer Wolle und ein freundlicher Blick, ganz ohne Krähennester). Draußen graue Reste von Schnee, zwei Männer mit Arbeitshandschuhen, Schweiß auf der Stirn trotz der Kälte. Im Baum knackt es, Schnee fällt vor ihre Füße, angespannte Adern am Hals. Sie tragen ein Klavier. Auf dem Seitenstreifen wartet der Möbelwagen. Ich habe mal einen geliebt, der war Möbelpacker, er hatte nur ein Bein und ein Glasauge. Die Großmutter flaschengrün unter dem getupften Kleid. Meine Mutter trug ein dunkelblaues Kleid mit weißen Tupfen (Tupfen sind etwas anderes als Punkte, merk dir das Kind), als ich mit dem Möbelpacker durchbrannte (sein Auto steht vor der Tür, du kannst uns winken!).
233mal gelesen
Dein sanfter Atem neben mir
Das kaum sichtbare Heben und Senken
Des Brustkorbs
Auf der Leine vorm Haus tanzt die Wäsche im Wind
Die kurzen Hosen, die zielstrebigen Hemden
Während du schläfst
Deine Locken auf dem Kissen mit den Enten
Nebenan kämpft Dein Bruder mit Drachen
Eure Pfirsichhaut durchduftet den Tag
Weil eure Hände noch die Welt fassen
Und nicht das Nichts der Gedanken
225mal gelesen
Zwei Figuren auf einer Parkbank
Sie säßen lieber woanders
Der Jahreszeit gemäß vor einem offenen Kamin
In der Hand einen Grog
Vor dem Fenster Schneetreiben
Wie läuft es denn so
Fragen sie um wenigstens ihre Lippen zu bewegen
Sie werfen ihre Frage in die Luft
Sie haben nur diese eine
Sie verstecken ihre Dachsaugen voreinander
Sie haben solche Angst, unerkannt zu bleiben
Sie betrachten die Löcher im Käse
Die Fangarme der Zeit
Und flüstern: wir sind ausgedacht
Bevor sie verschwinden
Und die Parkbank gleich mit ihnen
Nur der Winter ist noch da.
191mal gelesen
Die Gräber sind überall
In der Luft
Im Haus gegenüber
Haben sie einen Säugling begraben
Jeder hat die bleichen Knochen
Von ein oder zwei Verlorenen im Kopf
Wie sie tanzen in den Schlangengruben der Endlichkeit
Das hat nichts mit dir zu tun
Sagt der Mann zu dem Mädchen
Und dreht sich nicht noch einmal um, als er geht.
204mal gelesen
Es sind immer die selben Wege
Die gleichen Gesichter
Die gleichen zu Boden gesenkten Stimmen
Und du durchquerst den Tag
Vorsichtig balancierend
Über den schmalen Streifen Krieg
An der äußersten Bewusstseinsschale
Die Eier in der linken Hand
Die Milch in der rechten
Passierst du die Kinder
Die Himmel und Hölle spielen
Du ziehst ihnen die Mützen über die roten Ohren
Und zu Hause stellst du dem Radio
Den Strom ab
223mal gelesen
Könnten wir zurückbleiben
Und den Blick heben
Was würden wir sehen?
Ein paar Figuren aus Lehm
Unbezwingbare Meere
Und Tiere auf ihrem Ausflug ins Gebirge
Wir wollten den Tag ergründen
Und die Nacht beleuchten
Aber man brachte uns zur Vernunft
Und wir wuschen uns gründlich die Hände
Bevor wir uns zu den anderen an den Tisch setzten
Wir aßen alles auf
Vorher durften wir nicht aufstehen
Und wir wollten doch so gerne aufstehen
215mal gelesen
Es war dieser Geruch nach Schuhwichse
So kann man kein Gedicht beginnen
Und außerdem musste er die Schuhwichse erst besorgen
Deswegen hatte sie ihn ja geweckt
Steh auf du dummer Hund hatte er gesagt
Denn er lebte allein
Sein Hund hatte ihn längst verlassen
Er erkannte ihn nicht einmal mehr
Wenn sie einander auf der Straße begegneten
Er ließ sich treiben
d.h. er blieb stehen wenn alle stehen blieben
und er blieb stehen wenn alle weitergingen
irgendwann begegnete ihm dieser Geruch nach Dunkelheit
Damit könnte es beginnen dachte er
Und ging nach Hause
347mal gelesen
Sie las mir diesen Satz vor
Und dann sagte sie
Es gibt ein paar Dinge, über die wir noch nie miteinander geredet haben
Und vielleicht ist das sogar ein Trost
Ein Hoch auf die Tassen im Schrank
Und einer macht einen Sprung
Ein anderer schlägt auf
Eine Mutter schlägt eine Bitte ab
(ich bitte dich, das geht doch nicht)
Und wir fühlen uns großartig heute
(wir das sind zwei Eintagsfliegen auf einem Honigbrot,
die dem Unglück die Stirn bieten)
Auf den Straßen sind heute so viele Menschen unterwegs
Als könnte etwas Neues beginnen
Als wären endlich alle Nüsse geknackt
Und die Schalen entsorgt
Einer zieht den Hut und ein anderer wirft einen Ziegelstein herein
Früher wollte ich immer Schornsteinfeger werden
(darauf läuft es hinaus)
die Rußpartikel der Unglücklichen sammeln
mir das Gesicht damit beschmieren
damit jeder der mich sieht
sich für einen Glückspilz hält
Aber ich wurde kein Schornsteinfeger
Ich stellte fest
Und das war der Anfang
Es war nicht leicht
Ein Unglück unter vielen anderen
Manchmal traf etwas zu
Und so verging die Zeit
Ich war kein Schornsteinfeger
Und niemand glaubte, ich sei in der Lage, Glück zu bringen
Bevor ich feststellte, dachte ich nach
Und während ich nachdachte, folgte ein Tag dem anderen
Sie verfolgten einander
Warum taten sie das
Warum blieben sie nicht stehen, um nachzudenken
Wie Rotkäppchen, die dem Wolf gescheite Fragen stellte,
bevor sie sich fressen ließ
Die Tage waren nicht so
Sie folgten einer dem anderen
Als hätten sie keine Wahl
Und so verging die Zeit
Ich würde kein Schornsteinfeger mehr werden
Das Nichts zwitscherte in den Ästen,
legte sich verführerisch in die Wolken,
regnete aus heiterem Himmel auf die Welt,
füllte die Flüsse, die Tassen, die leeren Bierflaschen am Wegesrand,
die trockenen Augen der Trauernden, den klaren Blick der Suchenden,
die Schornsteine
die wohlbedachten Schornsteine.
220mal gelesen
Sie schlug die Augen auf
Na gut, wieder ein Tag
Wieder ein Himmel und ein Bett
das man verlassen konnte
Sie nahm den roten Hut, malte ihre Lippen an
Wein im Korb, Kuchen
Das musste reichen
Sie machte sich auf den Weg
Im Wald raschelte das Laub, zwitscherten die Vöglein,
begegnete ihr der Wolf
Geh mir aus dem Weg sagte sie
Ich muss zur Hexe
Zu spät, sagte der Wolf, die habe ich längst gefressen
Wenn ich aufstoße kommen mir immer noch ihre Zaubersprüche hoch
Doch nicht zu der, sagte sie
Und jetzt lass mich vorbei
Du musst noch Blumen pflücken, sagte der Wolf
Ja, ja, sagte sie, und Steine sammeln für deinen Bauch.
Der Wolf war nicht besonders klug
Er senkte den Kopf und schlich ihr nach wie ein geprügelter Hund
Sie wiegte ihre Hüften
Sie schwebte
Sie tanzte
Er durfte gar nicht hinsehen
Und dieser süße Duft
Sie schlug an die Tür
Ich bins, mach auf
Ein paar Dielenbretter knarrten
Ein Schlüssel bewegte sich rostig im Schloss
Dann war sie weg
Die Tür schlug zu
Und wenn sie nicht gestorben sind
Dann wartet er noch heute
197mal gelesen
Ich sitze auf den Dächern
Und bestimme das Geburtsdatum der Verstorbenen
Ich mische das Rot mit dem Blau
Zwischen den Farben beginnt der Tag
Ein Gemisch aus Luft und Erde
Wenn ich die Dächer verlasse
Kann ich die Geschichten wachsen sehen
Wie sie Knospen treiben blühen könnten
Wenn sie unbewusster wären
Und statt zu landen die Worte suchten
In denen ausreichend viel Schweigen liegt
Um sie nicht zu verstehen
Sondern zu begreifen
212mal gelesen